Basierend auf einem Interview mit Susanne Hufe, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ

Neue Verordnungen zum Schutz von Natur und Biodiversität werden oft kontrovers diskutiert, so auch im Fall der EU-Verordnungen über die Wiederherstellung der Natur (NRR) und über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (SUR). 2022 haben sich auch mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den Diskussionen beteiligt. In einem neu veröffentlichten Meinungsbeitrag analysieren sie die Rolle von Forschenden in solchen Debatten, in denen Wissenschaft, Politik und handfeste Interessen zusammenfließen. Der Hauptautor Dr. Guy Pe’er, Wissenschaftler an UFZ und iDiv, dazu im Interview.

Welche Rolle spielten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Debatten über die EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur und die EU-Verordnung zur nachhaltigen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln?

Guy Pe’er: Das Vorfeld der beiden durch das EU-Parlament zu treffenden Entscheidungen war geprägt durch eine kontroverse öffentliche Debatte, in der Falschinformationen eine erhebliche Rolle spielten. Als uns das bewusst wurde, haben wir – Kolleginnen und Kollegen verschiedener Fachrichtungen und Institutionen – überlegt, wie wir dem etwas entgegensetzen können. Daraus entstand die Idee, die Behauptungen, die gegen die EU-Verordnungen aufgestellt wurden, mit wissenschaftlichen Beweisen zu vergleichen und als offenen Brief zu veröffentlichen, um Fehlinformationen zu entlarven. Das Sammeln und Zusammenfassen der Beweise waren der erste entscheidende Schritt, für den Expertinnen und Experten aus vielen Bereichen ihre Kräfte bündelten.

Unsere Initiative stieß bei vielen Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft auf große Zustimmung. Schließlich unterzeichneten mehr als 6.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Brief, den wir an Medien und politische Entscheidungsträger auf europäischer Ebene übergaben. Der Brief erzeugte viel Aufmerksamkeit. Wir wurden zu Treffen mit EU-Parlamentsmitgliedern zu Anhörungen eingeladen und sprachen auf öffentlichen Veranstaltungen und Debatten. Indem wir ausgewogene wissenschaftliche Evidenz und klare Argumente lieferten, haben wir versucht, die öffentliche Diskussion zu versachlichen – und ich bin der festen Überzeugung, es ist uns gelungen, die Polarisierung zu verringern.

Das EU-Parlament hat die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur letztlich angenommen, die Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln dagegen abgelehnt. Welche Rolle spielten dabei Fake News?

In unserer Studie haben wir die Genese der beiden Verordnungen analysiert. Die Menschen haben einen breiten Konsens bzgl. einer sehr positiven Einstellung zur Natur und sind sich daher einig, sie zu schützen. Die Argumentation ist relativ einfach: Wir brauchen die Natur, um zu überleben. Bei den Pestiziden lautet das gängige Narrativ dagegen: Wir brauchen einige Pestizide, um unsere Kulturpflanzen zu schützen und unsere Ernährung zu sichern, so dass die Menschen in der Verringerung des Pestizideinsatzes ein Risiko sehen. In der Praxis kann es kompliziert sein, Pestizide ohne Ertragseinbußen zu ersetzen. Infolgedessen sehen die Menschen die Reduzierung von Pestiziden als Risiko an, auch wenn die Realität anders aussieht. In einem solchen Umfeld ist es folglich einfacher, Desinformationen zu verbreiten, etwa indem Ernteverluste hervorgehoben werden, die tatsächlich lokal auftreten können, um so den Anschein zu wecken, dass eine groß angelegte Pestizidreduzierung die Ernährungssicherheit gefährden könnte.

Es gibt aber noch weitere Unterschiede. Die NRR legt aufgrund der Freiwilligkeit der Maßnahmen den Landwirten keine direkten Beschränkungen auf, während die Reduzierung von Pestiziden durch die SUR durchaus Einschränkungen zum Beispiel zur Art, Umfang und Zeitpunkt des Chemikalieneinsatzes erfordern würde. Deswegen war es hier leichter, Widerstände zu erzeugen und Wut bei den Landwirten zu schüren. Zudem hätte die SUR Ertragseinbußen für die agrochemische Industrie mit sich gebracht. Dagegen haben sich deren mächtige Lobbygruppen in Brüssel natürlich gewehrt – Leider mit Erfolg im Fall des SUR.

Mit welchen pseudowissenschaftlichen Aussagen versuchten die Gegner der Verordnungen, die Entscheidungen der Politik zu beeinflussen?

Die meisten Desinformationen kamen von Lobbyverbänden aus den Bereichen Lebensmittel, Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft. So wurde beispielsweise behauptet, dass die Verordnungen die Lebensmittelproduktion verringern und damit die Ernährungssicherheit gefährden. Dies ist falsch: In Europa nutzen wir rund 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen für Tierfutter und als Biokraftstoff, nicht für die direkte Ernährung der Bevölkerung. Tatsächlich produzieren wir mehr, als wir brauchen. Und wir exportieren viel, vor allem tierische Produkte wie Fleisch und Käse. Die eigentlichen Risiken für die Ernährungssicherheit gehen jedoch eher vom Klimawandel, von Dürren und Hochwasser, von der Bodendegradation und vom Rückgang von bestäubenden Insekten aus.

Behauptet wurde auch, dass durch die Verordnungen Arbeitsplätze verloren gehen, zum Beispiel in der Landwirtschaft oder Fischerei. Es sind jedoch nicht der Naturschutz oder die Wiederherstellung der Natur, die Arbeitsplätze vernichten, sondern vielmehr die technologische Entwicklung, der Großgrundbesitz und industrielle Formen der Landwirtschaft und der Fischerei, die Kleinerzeuger verdrängen. Die NRR und die SUR könnten vielmehr dazu beitragen, grüne Arbeitsplätze zu erhalten oder sogar neu zu schaffen – entgegen den Behauptungen derjenigen, die die Verordnungen scheinbar im Namen der Kleinbauern bekämpften.

Eine weitere Behauptung war, dass die Verordnungen die Landwirte überfordern würden, insbesondere angesichts der zahlreichen, derzeit herrschenden globalen Krisen wie etwa der Krieg in der Ukraine. Diese Behauptung lässt aber außer Acht, dass die Gesellschaft schon jetzt doppelt für das derzeitige EU-Agrarmodell zahlt: Einerseits bezahlen wir die Landwirte über die Gemeinsame Agrarpolitik, unabhängig davon, welches Geschäftsmodell sie verfolgen. Andererseits tragen wir alle die Folgen einer nicht nachhaltigen Landwirtschaft mit, also besonders die Schäden durch Agrochemikalien, die zu Gesundheitsrisiken, Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt und Verschlechterung der Wasserqualität führen.

Inwieweit ist es den Wissenschaftlern gelungen, Fake News mit Hilfe von wissenschaftlicher Evidenz zu widerlegen?

Unser Brief und unsere Argumente hatten wirklich Einfluss auf den gesamten Entscheidungsprozess bei der NRR. Wir haben dazu beigetragen, die Vorteile der NRR deutlicher zu machen, und wir haben gesehen, dass unsere Argumente nicht nur von Umwelt-NGOs und Politikerinnen und Politikern, die schon lange für die NRR kämpfen, aufgegriffen wurden, sondern auch von weiteren politischen Entscheidungsträgern wie etwa Mitgliedern der konservativen EVP-Fraktion. Die EVP hatte zwar mehrheitlich Zweifel an der NRR geäußert, aber schließlich haben sich einige Mitglieder für die Verordnung ausgesprochen, was zu deren Verabschiedung führte. Es ist bedauerlich, dass dies bei der SUR nicht der Fall war, obwohl die gegen die NRR und die SUR erhobenen Aussagen fast identisch waren.

Was können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für künftige umweltpolitische Debatten lernen?

Das Beispiel der Verordnung zur Wiederherstellung der Natur zeigt, dass es sich für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lohnt, bei Fehlinformationen einzugreifen, wenn die Behauptungen in deren Fachgebiet liegen. In solchen Fällen haben sie nicht nur die Autorität, sondern sogar den Auftrag, für sich selbst zu sprechen und das von ihnen generierte Wissen zu vertreten, um proaktiv wissenschaftliche Fakten in die Diskussion zu bringen. Solange wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unsere Rolle als Lieferanten von ausgewogener wissenschaftlicher Evidenz beibehalten, haben wir gute Chancen, dass man uns zuhört.

 


Originalpublikation

(Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit iDiv-Affiliation sowie Alumni fett markiert)
Guy Pe’er
, Jana Kachler, Irina Herzon, Daniel Hering, Anni Arponen, Laura Bosco, Helge Bruelheide, Elizabeth A. Finch, Martin Friedrichs-Manthey, Gregor Hagedorn, Bernd Hansjürgens, Emma Ladouceur, Sebastian Lakner, Camino Liquete, Laura López-Hoffman, Isabel Sousa Pinto, Marine Robuchon, Nuria Selva, Josef Settele, Clélia Sirami, Nicole M. van Dam, Heidi Wittmer, Aletta Bonn(2025). Role of science and scientists in public environmental policy debates: the case of EU agrochemical and nature restoration regulations, People and Nature, DOI: 10.1002/pan3.70064

 

Ansprechpersonen

Dr. Guy Pe’er
Biodiversität und Mensch
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Telefon: +49 341 9733182
E-Mail: guy.peer@idiv.de

Kati Kietzmann
Medien & Kommunikation
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Telefon: +49 341 9739222
E-Mail: kati.kietzmann@idiv.de